Irrenanstalt Warrenberg

Ursprünglich sollte das mal eine zamonische Abenteuerspielgeschichte werden, in der der Leser die Stimme im Kopf spielen und so den Handlungsverlauf beeinflussen kann. Als mir das zu schwierig wurde dachte ich, ich schreibe es wenigstens als normale Geschichte. Aber ich habe irgendwann aufgehört. Ich dachte eine zamonische Geschichte ohne Bezug auf die Nachtschule wäre langweilig und habe auch selbst irgendwann die Lust verloren. Trotzdem bringe ich es nicht übers Herz, die Geschichte wegzuwerfen.

Auf der Halbinsel Würm, am Rande der Bärenbucht und gerade so außer Sichtweite des Rettungssaurierseniorenheims Nordend, befindet sich ein hohes Gebäude, das von einer weißen Mauer umgeben ist. Dies ist die hiesige Irrenanstalt. Hier werden Patienten festgehalten, versorgt, unterhalten, ruhiggestellt und in seltenen Fällen vielleicht sogar geheilt.

Unten, in dem kleinen Empfangsraum, dessen Sicherheitssystem außerdem dafür sorgt, dass keiner der Insassen das Anwesen unbemerkt verlässt, saß tagein tagaus ein gelangweilter Hundling und hielt Wache. Heute jedoch spitzte er neugierig die Ohren und lauschte, wie im Nebenzimmer, dem Zimmer des Arztes, ein Neuling untersucht wurde.

„Was ist denn mit ihr? Sie macht eigentlich einen halbwegs ...natürlichen Eindruck.“ Der Arzt, ein stattlicher Wildschweinling mittleren Alters namens Arndt, setzte dem schüchternen Fernhachenmädchen ein Stethoskop auf die Brust.

„Sie hört Stimmen!“, hauchte die Mutter der kleinen Fernhachin ergriffen. „Damit beginnt es immer. Und dann irgendwann fangen sie an, unheimliche Dinge zu tun und schließlich... Nein, so soll es mit meiner kleinen Nia nicht ausgehen.“ Sie tätschelte ihrer Tochter halbherzig den Kopf. „Ich möchte, dass Sie sich um sie kümmern. Bei uns im Dorf würde sie nur Schwierigkeiten machen.“ Der Arzt nickte. Er kannte das Szenario: Daseinsformen jeder Art brachten Andersartige hierher, nur um sie loszuwerden. Natürlich immer mit der festen Überzeugung, damit aufopferungsvoll das Beste für den Betroffenen zu tun.

„Hat Herr Warrenberg bereits zugestimmt?“

Herr Warrenberg, ein Idee der besonders schlechten Sorte, war der Leiter der Anstalt. „Wie der Leiter, so die Anstalt.“, pflegte der Arzt leise vor sich hinzumurmeln, wenn er gestresst war und sich unbeobachtet fühlte. Und so war es auch. Die meisten Insassen hatten lediglich einige seltsame Angewohnheiten oder Ansichten, stellten jedoch noch lange keine größere Bedrohung für ihre Umgebung dar, als die freilaufenden Exemplare ihrer Daseinsform. „Eigentlich“, hatte Herr Warrenberg schon öfter von sich gegeben, „müsste man jedes freilaufende Wesen in diese Irrenanstalt einquartieren. Aber so viel können wir wohl nicht verlangen. Am Besten, wir nehmen einfach jeden, den wir kriegen können.“ Arndt hatte den Verdacht, dass der Leiter selbst wohl am Besten in seine Anstalt passen würde.

„Natürlich hat er schon zugestimmt. Sonst würden wir jetzt in seinem Büro sitzen, anstatt in Ihrem Untersuchungszimmer.“, keifte die Fernhachenmutter auf eine höchst unfernhachige Weise. „Narürlich.“ Der Wildscheinling ging in die Knie, sodass er fast auf Augenhöhe mit der kleinen Patienetin war. „Du hörst also Stimmen?“, fragte er sie sanft. Das Mädchen nickte ängstlich. „Was erzählen sie denn so?“, bohrte Arndt weiter. Die kleine Fernhachin öffnete den Mund und piepste: „Es ist meistens nur eine Stimme. Sie tut nichts weiter. Sie ist mein Freund.“ Der Arzt nickte und wandte sich wieder an die Mutter. „Sie ist nicht weiter gefährlich. Ich denke, sie kann problemlos in ein Mehrpersonenzimmer.“ „Das ist gut. Ich hoffe, da findet sie schnell neue Freunde. Tschüss, ich wünsche dir viel Spaß in deinem neuen Zuhause, Nia.“ Die Mutter tippelte eilig davon, ohne ihrer Tochter auch nur einen Abschiedskuss auf die Wange zu drücken. Sie wollte einfach blos so schnell wie möglich raus hier.

Der Arzt beugte sich erneut zu dem Mädchen hinunter. „Nia, richtig?“ Sie nickte zaghaft. „Na dann komm doch mal mit. Ich bringe dich zu deinem Zimmer.“

 

Der fleckige, hellbraune Teppich und die weiß gestrichenen Wände ließen den Raum ein wenig größer wirken, als er wahrscheinlich tatsächlich war. Nia linste neugierig nach links und rechts. Die Einrichtung sah lustig aus: Auf der rechten Seite des Zimmers stand ein ordentlich aufgeräumter Schreibtisch aus einem zart orangestichigem Holz. Daneben befand sich ein schmales Metallbett, auf dessen orange bezogener Matratze ebenfalls orange bezogene Bettwäsche fein säuberlich zusammengelegt worden war. Auf der linken Seite des Zimmers stand ein äußerst unordentlicher Schreibtisch aus einem zart blaustichigem Holz. Daneben befand sich ein ausgebeultes Metallbett, auf dessen blau bezogener Matratze ebenfalls blau bezogene Bettwäsche unachtsam zusammengeknüllt worden war. Das I-Tüpfelchen jedoch bildete ein handbreiter, blutroter Streifen, der sich genau in der Mitte des Zimmers über Teppich, Zimmerwand, Tür und Decke zog. Auf dem orange bezogenen Bett rechts saß, die Beine übereinandergeschlagen, ein schmaler, recht klein gewachsener Lindwurm, dessen Schuppen passend zur Zimmerhälfte orange-rot schimmerten. Auf dem blau bezogenen Bett links saß, sich in der Nase bohrend, ein kräftiger Schweinsbarbar, dessen kurzes, teilweise verklebtes Fell ein so tiefes Blau an den Tag legte, dass ein ungelernter Beobachter es vielleicht auf den ersten Blick für Schwarz gehalten hätte.

Aber Nia war keine ungelernte Beobachterin, und die Stimme in ihrem Kopf ebenso wenig.

Der Wildschweinling räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der beiden Zimmerinsassen auf sich zu ziehen. Diese sahen auf und musterten das Fernhachenmädchen interessiert.

„Ihr zwei bekommt für die nächste Zeit eine neue Zimmergenossin. Bitte behandelt sie freundlich.“ Der blaue Schweinsbarbar grunzte. „Das ist aber schön. Und wo soll die Kleine schlafen?“ Der orangene Lindwurm nickte zustimmend. „Nur zwei Betten sind hier angebracht, denn dies Zimmer ist für zwei Personen gedacht.“ Der Arzt schob Nia trotzdem in den Raum. „Keine Sorge.“, lächelte er, „Wir stellen hier noch ein Bett auf. Ihr könnt euch ja schon mal bekannt machen.“ Mit diesen Worten schloss er die Tür und ließ die drei allein.

 

Eine Weile herrschte peinliche Stille. Nia sah mit großen Augen durch das Zimmer und fragte sich, was wohl als nächstes passieren würde. Schließlich erhoben sich Lindwurm und Schweinsbarbar und kamen bis zu ihr heran. „Ich bin Zoff.“, stellte sich der Schweinsbarbar kurzerhand vor. Seine riesige Pranke schüttelte kräftig Nias zarten Finger. Der Lindwurm deutete einen Knicks an und sagte: „Tidarius, das ist mein Name. Guten Morgen, junge Dame.“

„Na da hast du ja zwei schöne Zimmergenossen abbekommen.“, kommentierte die Stimme in ihrem Kopf. Nia lächelte schüchtern. „Ich bin Nia.“, stellte sie sich ihrerseits vor und fügte neugierig hinzu: „Warum orange und blau?“ Zoff gestikulierte etwas, das Nia allerdings nicht deuten konnte. „Blau ist meine Lieblingsfarbe, und orange seine. Früher haben wir uns immer gestritten, in welcher Farbe eingerichtet sein soll. Jetzt haben wir die Grenze als Kompromiss gezogen. Seitdem sind wir die dicksten Freunde.“ Sein muskulöser, und allem Anschein nach wohl ziemlich schwerer Arm, landete unsanft auf der Schulter des Lindwurms. Dieser hustete leise. Bevor Nia eine Erwiderung eingefallen war, schwang die Tür mit einem Fauchen auf und gab den Blick auf eine kräftig gebaute, nahezu riesig erscheinende Schreckse frei, die ernst dreinblickte. Die drei Zimmerbewohner zuckten zusammen, Zoff murmelte leise „Au Backe.“

„Rede, Schweinsbarbar!“, stieß die wütende Schreckse hervor. Ihr Stimme erinnerte Nia an das Donnergrollen der wenigen Gewitter, die sie in ihrem kurzen Fernhachinnenleben erlebt hatte. „Ich wars nicht, ich schwörs!“, beteuerte Zoff und hob beide Pranken in die Höhe.

Der knochige Zeigefinger der Schreckse bohrte sich in das dunkelblaue Fell und ihr Blick in die kleinen Augen. Einen Moment lang schien die Spannung unerträglich. Dann drehte sie sich mit einem Mal um und verließ wortlos das Zimmer.

„Wer war das?“, wagte Nia nach einigen Minuten des Schweigens zu wispern. „Anizai.“, flüsterte Zoff ehrfürchtig zurück, und Tidarius fügte erklärend hinzu: „Sie sitzt auch in dieser Anstalt fest, und do solltest besser wissen, dass sie keine Ruhe lässt, hat man sich an ihren Keksen vergriffen.“ Nia nickte. Streit mit dieser Person wollte sie besser vermeiden. „Aber du sagstest doch, du warst es nicht.“, wandte sie sich an Zoff. „Warum hat sie dann mit dir geschimpft?“ Ein Grinsen breitete sich im Gesicht des Schweinsbarbaren aus. Er hob seine Pranke und tätschelte damit sanft den Kopf des Mädchens. „Du musst noch eine ganze Menge lernen. Du bist viel zu naiv.“ Mit diesen Worten zauberte er drei dicke, unglaublich gut duftende Schokokeckse mit fetten Stückchen hinter seinem Rücken hervor. „Willste was ab?“ Nia zuckte zusammen. „Also hast du gelogen?“, fragte sie empört. „Sowas macht man nicht!“ Nicht nur der Schweinsbarbar, sondern auch die Stimme in ihrem Kopf begannen zu lachen. Und auch Tidarius schmunzelte. „Lacht ihr mich aus?“ Ihre Stimme klang weniger vorwurfsvoll als schüchtern. Als Antwort stopfte der Dieb ihr einen der Kekse in den Mund. „Da, iss. Und lass es dir schmecken.“ Da man bekanntlich mit vollem Mund nicht spricht, kaute Nia brav zuerst auf, bevor sie erstaunt rief: „Die sind ja köstlich!“ Ihre Zimmergenossen nickten. „Bei keinem Bäcker ist es so lecker wie bei ihr, das schwör ich dir.“, erläuterte Tidarius. Nachdem sie ihren zweiten Bissen hinuntergeschluckt hatte, betrachtete Nia den Keks missmutig. „Es ist trotzdem nicht richtig. Er ist doch geklaut.“ Diesmal landete Zoffs tatsächlich sehr schwerer Arm auf ihren Schultern. „Nicht geklaut.“ Er entblößte mit einem Grinsen seine schokoladenverklebten Zähne. „Nur geliehen.“ „Wirklich?“ Die Fernhachin sah mit großen Kulleraugen zwischen dem Barbaren und dem Keks hin und her. Das Gebäck schmeckte einfach so gut! "Versprochen. Sie kriegts auf jeden Fall zurück.“ Lächelnd biss Nia wieder in ihren Keks hinein. In ihrem Geist erlebte sie einen wunderschönen Vormittag: Das Kaufen von Zutaten (Nia liebte das Einkaufen), das geinsame Backen von himmlisch duftenden Keksen mit ihen neuen Zimmerkameraden und schließlich, wie sie diese zusammen der Schreckse schenkten.

"Soll das Bett hier rein?" Diesmal wurde die Tür von einem großgewachsenen, kräftigen Wolpertinger aufgestoßen. Er hatte ein gut gepflegtes, aber dennoch zotteliges Fell, dessen dunkelbraune Farbe bis auf einen weißen Fleck an der Brust gleichmäßig an Schokolade erinnerte. Darunter zeichneten sich deutlich seine Muskeln ab. In seiner Linken hielt er, als wäre es aus Styropor anstatt aus Eisen, ein weiteres Bett.

Nia war so beeindruckt, dass sie nur sprachlos nicken konnte, als die Stimme in ihrem Kopf auch schon zu feixen begann. "Lässt du dich von sowas beeindrucken? Der Kerl besteht ja praktisch nur aus Muskeln! Das muss aber ganzschön ekelig sein. Andererseits... wenn man den aufschnippeln und schön in Scheibchen auf den Grill legen würde, wäre das bestimmt nicht übel..." "Du wieder.", seufzte Nia leise. "Aber schau dir das doch mal an, der kann ein ganzes Bett mit einer Hand tragen. Ich frage mich, wie viele Lollis der auf einmal transportieren könnte."

Bevor die Stimme etwas darauf erwidern konnte, räusperte der Wolpertinger sich und wiederholte seine Frage. "Soll das Bett hier rein?"

 

Einige Minuten später stand das Bett gegenüber der Tür, genau auf der Hälfte den roten Streifen, der das Zimmer trennte. Irgendein Pfleger musste mitgedacht haben, denn Laken und Bezug waren je orange-blau kariert.