Der Dimensionslochfluch

Es war eine Geschichte zu einem Wettbewerb von Bimmel, gegeben waren das Thema Liebe, der Anfang und die Worte Kochlöffel, Reagenzglas, Hutschachtel, Schlüsselbund, Sessel, Bahnschranke, Hausanschluss, Ohr, Finanzbeamter und Eigelb.

Kochlöffel Reagenzglas Hutschachtel Schlüsselbund, Sessel, Bahnschranke, Hausanschluss, Ohr, Finanzbeamter und Eigelb.

Kochlöffel Reagenzglas Hutschachtel Schlüsselbund, Sessel, Bahnschranke, Hausanschluss, Ohr, Finanzbeamter und Eigelb.

Hildegunst seufzte. „ist das Dein letztes Wort? Willst Du wirklich weg von hier?“ Qwert antwortete nicht. Er saß noch immer am Fenster und beobachtete die vorbei fliegenden Vögel. All die schönen Tage und Stunden wanderten durch seine Gedanken.

Alles hatte mit einem schwachen, fast unmerklichen Geruch begonnen: Gennf. Obwohl die wenigsten Lebewesen diesen Geruch überhaupt kannten, löste er in Qwert explosionsartig eine Lawine verschiedenster Gefühle aus. Er schnupperte. Hier irgendwo musste ein Dimensionsloch sein, nur wo? Erst als ihn ein wohliges Gefühl der Schwerelosigkeit ergriff, verstand er, dass er es gefunden hatte.

Im Zustand der Saloppen Katatonie schwebte Qwert gleichzeitig durch alles und nichts. „Irgendwie ist das gar nicht so unangenehm.“, dachte er ruhig, als ein breit grinsender Finanzbeamter an ihm vorbeiglitt.

Nach einer, wie es ihm vorkam, ungewöhnlich kurzen Zeit, auch wenn das Wort „Zeit“ in einem Dimensionsloch keinerlei Bedeutung hat, endete sein unwirklicher Fall. Er wurde hart zu Boden geworfen. Obwohl es in diesem Moment wohl einige wesentlich wichtigere Dinge gab, galt sein erster Gedanke seinem Lebensteppich: Er hatte ihn in Zamonien gelassen. Unwillkürlich entfuhr ihm ein Schluchzen. Warum nur musste er immer wieder in diesen verdammten Dimensionslöchern landen? Jetzt würde er seinen Lebensteppich nie beenden können, ja, er würde ihn niemals wiedersehen.

„Hasssst du dasss gehört?“ Es klang mehr nach einem Zischen als einer Sprache, und doch hatte Qwert die Worte verstanden. Erschrocken presste er sich die Hände vor den Mund und versuchte, in der ihn umgebenden Dunkelheit etwas zu erkennen. Da es ihm mit bloßen Augen unmöglich war, tastete er zögerlich seine Umgebung ab. Das Ergebnis trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn, obwohl er bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal gewusst hatte, dass er überhaupt schwitzen konnte. Sowohl vor, hinter, über und unter, als auch seitlich von ihm fühlte er nichts als eine raue, feste Oberfläche. Entweder, dieses Universum war sehr klein und durch diese Wände begrenzt, oder aber er war in etwas eingeschlossen. In beiden Fällen war er den zischelnden Stimmen machtlos ausgeliefert. „Natürlich habe ich dassss gehört!“, erwiderte empört eine zweite Zischelstimme. „Dassss kam auss deiner Kisssste.“ „Ssso ein Schwachssssinn, die Kisssste issst doch leer!“, meckerte die erste Stimme. Also war er in einer Kiste eingesperrt, schloss Gallertprinz. Immerhin bestand dann die Möglichkeit, dass ihn früher oder später jemand hinausließ. „Ach ja? Ich habe schon vorhin gessssehen, wie du diessse Kissssste so ssseltsam getragen hassst. Besstimmt versteckssst du da drin irgendwass.“ „Tu ich gar nicht.“ „Tussst du doch!“ „Tu ich gar nicht.“ „Tusssssst du doch“ „Tu ich gar nicht!“ Müde sank Qwert in sich zusammen und versuchte, die streitenden Stimmen auszublenden. Bis sie auf die Idee kamen, die Kiste einfach zu öffnen, würde es wohl noch sehr, sehr lange dauern. Müde, erschöpft und in Gedanken bei seinem Lebensteppich, schlief Qwert schließlich ein.

„Tu ich gar nicht!“ „Tussssssssst du doch!“ Die erregten Stimmen zogen Qwert unsanft aus seinen Träumen. Er hatte also nichts Wichtiges verpasst. Traurig seufzte er und lauschte überrascht, als das Geplänkel der Stimmen für einen kurzen Moment stoppte. „Da war essss schon wieder.“, zischelte es im Flüsterton. „Jetzt habe ich esss auch gehört. Lassss unss nachsssehen.“

Es folgte eine kurze Pause, dann ein Ruckeln und schließlich fiel ein rasch wachsender Lichtstrahl auf Qwert. Neugierig betrachtete er seine bizarre Umgebung. Er selbst saß in einer großen Hutschachtel. Diese stand auf einem Tisch, der in einem Eisenbahnwagon befestigt war. Hinter ihm sauste eine entfernt an Zamonien erinnernde Landschaft am Eisenbahnwagonfenster vorbei. Links und rechts von ihm standen Sitze, auf denen zwei überdimensionale Insekten saßen, jedes eine Tasse Kaffee vor sich auf dem Tisch. Sie starrten ihn aus ihren Facettenaugen an. „Was zur heiligen Bahnschranke issst denn denn dassssss?!“, gab eines der Insekten von sich. Das andere betastete ihn mit einem großen, stacheligen Fühler. Um seine Angst zu überspielen, räusperte sich Qwert zweimal kräftig, bevor er sich vorstellte. „Guten Tag. Mein Name ist Qwert Zuiopü. Ich komme aus der 2364. Dimension und bin über Umwege durch ein Dimensionsloch hierher gekommen. Darf ich fragen, wo ich gelandet bin und wer Sie sind?“ Die Insekten starrten ihn Wortlos an, eines von ihnen stocherte weiter mit einem seiner Fühler in ihm herum. Qwert seufzte und versuchte es erneut, dieses Mal in einem zischelnem Tonfall. „Guten Tag. Mein Name issst Qwert Zuiopü. Ich komme auss der Zweitausssenddreihundertvierundsssechzigssten Dimensssion und bin über Umwege durch ein Dimenssionsssloch hierher gekommen. Darf ich fragen, wo ich gelandet bin und wer Ssie ssssind?“

Die Augen der Insekten leuchteten auf und das Linke von ihnen wisperte zum Rechten: „Esss kann ja ssprechen!“ Qwert hüstelte leise, um erneut auf sich aufmerksam zu machen. Das rechte Insekt hob seine Tasse Kaffee an die Zangen, schlurfte einen kräftigen Zug und antwortete endlich. „Ich heißssse Zwei und dassss da ist Einsss. Wassss isst ein Dimenssionsssloch?“ Qwert verkniff sich die Bemerkung, dass Dimensionslöcher im Allgemeinen keine Nahrung zu sich nehmen und antwortete höflich: „Ein Dimenssionsssloch verbindet verschiedene Dimenssionen. Wenn man in ein Dimenssionsloch fällt, kommt man ssozusssagen in einer anderen Welt hinausss.“ Er hatte versucht, es so einfach wie möglich zu halten, denn diese riesenhaften Insekten schienen ihm nicht gerade wie Intelligenzbestien. „Achssso.“, sagte Eins anstelle von Zwei. Da sie sonst keine Anstalten machte etwas zu sagen, sah Qwert sich im Bahnwagon um. „Wohin fahrt der Zsssug?“ Die Insekten machten ein komisches Geräusch. Vielleicht lachten sie, vielleicht hatten sie sich auch lediglich an ihrem Kaffee verschluckt. „Wohin der Zssug fährt, dasss weißsss niemand.“ Das kam ihm doch etwas verwirrend vor. Der Gallertprinz beobachtete die Landschaft, die am Fenster in atemberaubender Geschwindigkeit vorbeisauste. „Wasss ist denn außsserhalb der Bahn?“, fragte er schließlich. Wieder lachten oder husteten Eins und Zwei. „Esss gibt nichtsss außsssserhalb. Dassss Leben isssst nur eine Reissse in die Ferne.“ Der letzte Satz kam Qwert seltsam bekannt vor, aber er wusste nicht mehr genau woher. Er beschloss, die Eisenbahn etwas genauer zu untersuchen, kletterte aus der Hutschachtel und schwabbelte zur Tür des Wagons, die ihn eindeutig zur Außenwelt führen musste. Auch sie hatte Fenster, und auch hinter diesen Fenstern sah er in diesem Moment eine wunderschöne, grüne Wiese vorbeifliegen. „Irgendetwas musss doch außsserhalb des Zssugess sssein.“, sagte er entschlossen. Die Insekten tuschelten aufgeregt miteinenader. „Tu dasssss nicht!“, rief Zwei ihm zu, doch Qwert hatte bereits den Riegel hinaufgeschoben und stieß die Tür auf. Wie eine gewaltige Lawine stieß ihm ein Schwall intensivsten Gennfgeruchs entgegen. Dort, wo er durch die Fenster eine Landschaft gesehen hatte, befand sich nur ein schwarzer Strudel. Vorallem der starke Geruch, aber auch die Überraschung, raubten ihm die Sinne. Bevor die Insekten etwas tun konnten, viel der bewusstlose Gallertprinz in den tiefen, dunklen Strudel der Universen.

 

„Möchten Sie einen neuen Hausanschluss?“ Müde blinzelnd realisierte Qwert, dass er sich noch immer im Dimensionsloch befand. Die Stimme, welche ihn geweckt hatte, hallte durch Zeit und Raum. Während Qwert sich noch fragte, was ein Hausanschluss war, erkannte er vor sich eine schwabbelige, hellgrüne Masse, die blöde grinsend vorwärts schwabbelte. Tatsächlich, er hatte sich schon so oft durch Dimensionslöcher bewegt, dass er sich nun schon selbst traf. Doch als er genauer hinsah, erkannte er einige kleine Veränderungen an sich. Das klare Grün das ihn jetzt färbte war verblasst und an seinem Kinn baumelte etwas Weißes... Ein Bart? Tatsächlich, das musste eine sehr alte Version von ihm sein. Träge winkte er sich selbst zu. „Hallo ich.“, sagte seine alte Version. „Hallo ich.“, erwidert seine junge Version. Dann schwebten sie wieder davon.

Der angenehm benebelnde Zustand der Saloppen Katatonie verflüchtigte sich viel zu schnell und ließ ein drückendes, unangenehmes Gefühl in Qwert zurück. Erst jetzt konnte er die Begegnung mit seinem zukünftigem Ich verarbeiten. Es bedeutete unvermeidlich, dass er sich auch in hohem Alter noch durch Dimensionslöcher bewegen würde. Das wiederum bedeutete, dass er wahrscheinlich nie glücklich in seine eigene Dimension zurückkehren und dort den Thron einnehmen würde. Traurig sank er in sich zusammen. Auch wenn er wusste wie gering diese Wahrscheinlichkeit war, hatte er die Hoffnung doch nie aufgegeben. „Warum lande ich immer und immer wieder in Dimensionslöchern?“, murmelte er verzweifelt vor sich hin. „Vielleicht bist du ja verflucht.“ Qwert zuckte zusammen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Umgebung keines Blickes gewürdigt. Jetzt schämte er sich für diesen fatalen Fehler und sah auf. Er blickte in zwei glühende, grüne Augen. Das Wesen vor ihm erkannte seine Verwirrung, kratze sich am Ohr und leckte sich ruhig das pechschwarze Fell. „Gestatten: Nera. Ich bin eine Kratze.“, stellte es sich vor. Während Qwert sie noch immer verwirrt ansah, startete in seinem Gehirn das Lexikon des Professor Doktor Abdul Nachtigaller eine Erklärung über Kratzen. Das Lexikon? Am liebsten wäre Qwert sofort schreiend davongeschwabbelt. Er war schon wieder in Zamonien gelandet.

„Vielleicht hast du ja Recht und ich bin wirklich verflucht.“, murmelte er. Eigentlich glaube er nicht an Flüche und dergleichen. Und doch hatte er schon viele Dinge gesehen, an die er nie geglaubt hätte. Außerdem war es immerhin ein nahezu unmöglicher Zufall. „Das wäre gut.“, sagte die Kratze und fügte als sie seinen entgeisterten Blick sah erklärend hinzu: „Dann könnte ich dir vielleicht helfen.“

Seiner Meinung nach hatte Qwert ohnehin nichts mehr zu verlieren, und so folgte er der schwarz glänzenden Kratze durch die schmalen Gassen einer ihm unbekannten, kleinen und sehr alt wirkenden Stadt. Sie führte ihn zu einem schiefen Häuschen, aus dessen dürrem Schornstein schwarzer Qualm quoll. „Hier hinein.“, schnurrte sie und verschwand durch eine modrige Katzenklappe. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen klopfte Qwert an die klapprige Tür. Eine knarzende, den Gallertprinz schaudern lassende Stimme ertönte. „Nur herein, die Tür ist offen.“ Diese Einladung war es, die Qwert ganz sicher werden ließ, dass er nicht an Flüche glauben und lieber das Weite suchen sollte. Doch gerade als er unauffällig ein Stückchen zurückschwappte, streckte die Kratze ihren schwarzen Kopf durch die Klappe und brummte: „Nicht so schüchtern!“ Es klang beinahe wie eine Drohung. Seinem Schicksal ergeben öffnete Qwert die Tür und schwabbelte hinein.

Er landete in einem quadratischen Raum, dessen Wände deckenhohe Regale zierten, die mit allerhand unheimlichen Krimskrams gefüllt waren. In einer Ecke des Raumes konnte Qwert die große, dürre Gestalt einer Schreckse ausmachen, die an einem großen Kessel stand und ihn mit einem hölzernen Kochlöffel umrührte. Nun war auch zu erkennen, dass der Kessel die Ursache des stinkenden, schwarzen Rauches war, der aus dem Schornstein gekommen war und sich dicht im ganzen Zimmer verteilt hatte. „Guten Tag. Kann ich helfen?“, fragte die Schreckse, aber es klang eher wie: „Hallo, kleiner Naivling. Schön, dass du gekommen bist. Du siehst aus als könnte man dich gut verkochen.“ Plötzlich war Qwert nicht mehr der Ansicht, dass er nichts mehr zu verlieren hätte. Er war immerhin am Leben, im Besitz aller wichtigen Körperteile und hatte nicht vor, in Kürze etwas daran zu ändern. Er öffnete den Mund und wartete darauf, dass eine intelligent wirkende Antwort aus ihm heraus kam. Stattdessen entfuhr ihm aber nur ein jämmerliches, peinlich hohes Geräusch. „Er landet immer wieder in Dimensionslöchern und darüber hinaus immer wieder in Zamonien.“, kam die schwarze Kratze ihm zur Hilfe. Sie war um den Kessel herumgegangen und schmiegte sich nun schnurrend an die warzigen Beine der Schreckse, Diese legte den Kochlöffel neben sich ab und kratzte sich am Kinn. „Vielleicht ließe sich dagegen etwas machen. Komm doch mal einen Schritt näher.“ Widerstrebend kam Qwert näher und fuhr erschrocken zusammen, als er ein Husten neben sich wahrnahm. Durch den vielen Qualm hatte er die zweite Gestalt in dem Raum überhaupt nicht bemerkt. Es war ein hoch gewachsener Lindwurm, der schlaff auf einem gelben Sessel hing. „Ähm...“, hob Qwert an, aber die Schreckse unterbrach ihn. „Du musst dir keine Sorgen machen. Verfluchten helfe ich immer gerne, das geht aufs Haus. Setz dich nur kurz zu meinem anderen Gast, ein zweiter Sessel steht bereit.“ Der andere „Gast“ machte auf Qwert nicht gerade den Eindruck, als wäre er freiwillig hier. Vorsichtig schüttelte er ihn. Der Lindwurm blinzelte benommen. „Geht es Ihnen gut?“, wisperte der Gallertprinz und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie die Schreckse ein Eigelb in ihren Kessel schlug. „Ich habe ihn bewusstlos auf der Straße gefunden. Mach dir keine Sorgen um ihn, er wird bald keine Schmerzen mehr fühlen.“, erklärte die Schreckse. Wie beruhigend, dachte Qwert und knuffte den Lindwurm in den Arm. Dieser gab ein leises Grummeln von sich, hustete erneut und begann zu blinzeln. „Wo... Wo bin ich?“ Qwert warf einen Blick zu der Schreckse. Sie hatte sich längst wieder in ihren Kessel vertieft und schien nichts um sich herum mitzubekommen. Aber wer konnte das bei einer Schreckse schon wissen? „Wie geht es Ihnen?“ Der Lindwurm befühlte vorsichtig seine Stirn. „Ich habe Kopfschmerzen. Und ich habe keine Ahnung, wo ich bin.“ Er musterte misstrauisch eine Sammlung kleiner Schädel im Regal neben sich. „Wir befinden uns in einer Schrecksenhütte.“, flüsterte Qwert erklärend. Benommen sah der Lindwurm zu der schlanken und inzwischen völlig in Rauch eingehüllten Gestalt, die just in diesen Augenblick krächzte: „Fertig.“ Da sie keine Anstalten machte zu ihm hinüber zu kommen, schwabbelte Qwert unsicher auf sie zu und warf einen misstrauischen Blick auf die blubbernde, schwarze Flüssigkeit im Kessel. „Und das muss ich trinken, um den ‚Fluch’ loszuwerden?“ Er versuchte es klingen zu lassen, als glaubte er diesen Schrecksenhumbug tatsächlich. „Schwachsinn! Das ist doch nicht für dich.“, fauchte die Schreckse und kicherte albern in sich hinein. Wahrscheinlich hatte sie schon längst viel zu viel von dem schwarzen Rauch eingeatmet, den ihr Kessel verströmte. „Das ist meine Suppe, mein Mittagessen.“ Sie scheinbar wahllos griff hinter sich, murmelte etwas, das verdächtig nach Schimpfwort klang und drückte ihrem Besucher ein schmales, mit dunklem Gummipfropfen verstopftes Reagenzglas in die Hand. Qwert warf nur einen flüchtigen Blick auf die silbrig schimmernde Flüssigkeit darin. Sobald er endlich hier raus war, würde er das Zeug sowieso so schnell wie möglich entsorgen. Er murmelte zerstreut ein Wort des Dankes und schwappte rückwärts in Richtung Tür, als ein erneutes Husten ihn innehalten ließ. Sein Blick wanderte zu dem benebelten Lindwurm hinüber. Er konnte ihn nicht einfach in einem zugeräucherten Schrecksenhaus seinem zweifelhaften Schicksal überlassen. Einige unschöne Worte nach Gallertprinzenart später zog er den Lindwurm hoch. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen hier raus.“ Die große, leider ziemlich schwere Echse ließ sich widerstandslos führen. „Kommen Sie bald mal wieder.“, krähte die Schreckse zum Abschied. Qwert, der das ganz gewiss nicht vorhatte, schloss die Tür hinter sich. Einige Atemzüge lang genoss er die frische Luft außerhalb des Hauses. Dann klopfte seinem immer heftiger hustendem Begleiter behutsam auf den Rücken. Sie setzten sich auf den Bürgersteig, damit der Lindwurm sich ersteinmal beruhigen konnte. Nach einem letztem Würgen erhob er endlich seine Stimme. „Ich danke dir. In diesem Haus wäre ich wohl früher oder später erstickt. Mein Name ist Hildegunst von Mythenmetz. Darf ich fragen, wer mein edler Retter ist?“ Die Kinnlade des ‚edlen Retters’ war wie von selbst hinuntergefallen. Der Schriftsteller lächelte. „Es freut mich, dass mein Name dir anscheinend geläufig ist.“ Qwert nickte stumm. Er hatte sich gern mit Lindwurmfestenliteratur befasst und auch einige Bücher von Mythenmetz gierig verschlungen. Als er seine Sprache endlich wiedergefunden hatte, stellte er sich vor und berichtete knapp von seiner unfreiwilligen Reise durch die Dimensionen. Als Hildegunst verstand, dass sein Retter eine offenbar sehr interessante Erzählung, aber keine Bleibe hatte, lud er ihn zu sich ein. „Ich bin seit einigen Tage aus Recherchegründen in dieser Stadt. Leider darf ich nicht sagen worum es ging, aber die Lage hat sich zugespitzt, sodass ich in Zukunft meine Klauen von dieser Angelegenheit lassen sollte. Aber ich wäre gerne bereit, meine gemieteten Zimmer mit dir zu teilen. Immerhin bin ich dir noch etwas schuldig. Außerdem muss ich mich erholen, und ganz alleine kann das wirklich langweilig werden.“ Qwert kratzte sich am Kopf. „Es ist mir etwas peinlich zu fragen, aber in welcher Stadt befinden wir uns? Ich bin gerade erst aus einem Dimensionsloch gefallen und habe keinerlei Orientierung.“ Er sah sich interessiert um. „Der Baustil lässt auf Südzamonien deuten.“ Hildegunst nickte. „Wir befinden uns in Fannn, einem winzigen Kaff südwestlich des Loch Loch. Es würde mich jedoch wundern, wenn du es kennst.“ In Qwerts Kopf begann die Stimme des Professors, ihm etwas über das kleine Städtchen Fannn zu erzählen.

Hildegunst hustete ein letztes Mal und beobachtete die kleinen dunklen Wölkchen, die dabei aus seinen Nüstern geschwebt kamen. Dann erhob er sich schwerfällig. „Ich würde mich außerordentlich darüber freuen, wenn du mir im Gasthaus mehr über dich und deine Reise durch die Dimensionen erzählst. Aber lass uns gehen, wenn wir weiter hier herumsitzen bekommen wir noch kalte Füße.“ Erst als Qwert neben ihm herschwabbelte begann Hildegunst sich zu fragen, ob des Wesen neben ihm überhaupt Füße besaß.

Die Zimmer des großen Schriftstellers waren überraschend simpel. Es gab ein Wohnzimmer mit einem Sofa, einem flachen Buchenholztisch und zwei hohen Regalen, in denen sich Bücher und einige Zimmerpflanzen befanden. „Bitte setz sich doch. Möchtest du einen Tee?“ Qwert schüttelte den Kopf und dachte wehmütig an die Milchinstrumente seiner Heimat. „Nein danke, aber wenn es nichts ausmacht, hätte ich gerne ein Glas Milch.“ Er hatte bereits einige Male versucht ähnliche Instrumente wie in seiner Heimat herzustellen. Einmal war es ihm sogar so gut gelungen, dass die darauf gespielte Musik tatsächlich sättigte, auch wenn sie nicht besonders appetitlich war. Der Lindwurm nickte und verschwand in der Küche und kehrte einige Augenblicke später mit einer Tasse Tee für sich selbst und einem Glas Milch für seinen kleinen Freund in den Krallen zurück. Erst als Qwert das sich setzen und das Glas entgegennehmen wollte fiel ihm auf, dass er noch immer das Reagenzglas umklammert hielt. Er legte es neben sich aufs Fensterbrett und vergaß es bald, während der Schriftsteller ihn den ganzen Abend lang unterhielt. Als er anhaltend gähnte hielt Hildegunst inne. „Entschuldige, ich habe ganz die Zeit vergessen. Nach dem was du durchgemacht hast, musst du doch unglaublich müde sein. Auch ich habe immernoch Kopfschmerzen. Lass uns für heute schlafen und morgen weitererzählen.“ Qwert willigte nur zu gerne ein. Er bekam das Bett angeboten, während Hildegunst die Couch nahm.

 

Am nächsten Morgen wurde Qwert von feinen, zamonischen Sonnenstrahlen geweckt. Im ersten Moment wusste er nicht, wo er war. Dann kehrten seine Erlebnisse mit einem Schlag in sein Gedächtnis zurück. Gennf, der Fall durch das Dimensionsloch, die riesigen Insekten, der erneute Dimensionslochaufenthalt, das Treffen mit sich selbst, die schwarze Kratze, die qualmende Schrecksenhütte, der hustende Lindwurm und die Überraschung, als sich dieser als berühmter Schriftsteller entpuppte. Müde kletterte Qwert aus dem Bett und schwabbelte ins Wohnzimmer, um dem Lindwurm einen guten Morgen zu wünschen. Doch dort bot sich ihm ein höchst bizarrer Anblick: Hildegunst saß auf dem Boden inmitten eines Haufens Glasscherben, hielt einen Porzellanblumentopf in den Klauen und betrachtete mit Tränen in den Augen den kleinen Kugelkaktus darin. Von dem entgeistert dastehenden Qwert schien er keine Notiz zu nehmen. Erst als der Gallertprinz sich unbehaglich räusperte, wandte Hildegunst seinen Blick von dem Kaktus ab. „Ist sie nicht wunderschön?“ Die Stimme des Lindwurms war sanft und leise. „Ähm... ja. Es ist ein ...sehr schöner Kaktus.“, antwortete Qwert völlig perplex. „Es ist nicht nur irgendein schöner Kaktus!“, brauste Hildegunst auf und beruhigte sich ebenso plötzlich wieder, als er sich erneut dem Kaktus zuwandte. „Ihr Name ist Geraldine.“ Spätestens jetzt war sich der Gallertprinz sicher, dass der große Schriftsteller seinen Verstand verloren hatte. Erst, als sein Blick auf dem runden Gummipfropfen am Boden landete, fiel der Groschen. Das Reagenzglas mit fragwürdigem Inhalt der Schreckse musste über Nacht vom Fensterbrett gefallen und zerbrochen sein. Wahrscheinlich war die Flüssigkeit verdunstet und Hildegunst hatte sie, selig auf der Couch schlafend, eingeatmet. Zumindest würde das sein seltsames Verhalten erklären, denn wer weiß schon, was Schrecksentränke mit einem armen Dichter alles anstellen konnten?

Wahrscheinlich wussten es nichteinmal die Schrecksen selbst.

Zunächst einmal nahm Qwert sich vor abzuwarten und zu hoffen, dass die Verwirrung seines Gastgebers nur von kurzer Dauer sein würde. Er musste nur aufpassen, dass der Lindwurm keine Dummheiten anfing... Das würde ein langer Tag werden. Also schwabbelte der Gallertprinz in die Küche, um sich und Hildegunst etwas Tee zuzubereiten. Vielleicht half ein wenig Flüssigkeit ja auch gegen die Verwirrung. Als er mit zwei dampfenden, herrlich duftenden Tassen zurückkam, saß die große Echse unverändert da und redete sanft auf den Kaktus ein. „...und deine duftende Haut, so zart wie...“ „Ich habe Tee gemacht, möchtest du welchen?“ Da er nur ignoriert wurde, stellte Qwert die Tassen ab und machte sich ersteinmal daran, die Scherben um Hildegunst herum aufzusammeln. Dabei lauschte er erstaunt den Worten an den Kaktus. „...oh Geraldine, warum kreuzten sich unsere Wege nicht schon früher? Du bist diejenige, auf die ich all die Jahre gewartet habe. Ich möchte dich nie mehr aus den Augen lassen, nicht für eine Minute, nein, nichteinmal für eine Sekunde möchte ich je wieder den Blick von deinem wunderbaren Antlitz nehmen. Mein Herz schlägt für dich, und nur für dich wird es weiterschlagen...“ So ging es weiter und Qwert konnte nicht umhin, lautlos in sich hineinzulachen. Erführe die Presse von diesen Liebesschwüren, würde Hildegunst von Mythenmetz in nur wenigen Minuten zum Gespött der lesenden Zamonier werden.

Den Vormittag lang verhielt Hildegunst sich, von einigen lauten, seine Liebe bekundenden Ausrufen einmal abgesehen, recht friedlich. Mit der Zeit wurde er immer ruhiger und Qwert dachte schon, die Wirkung des Mittels ließe nach, als der Lindwurm sich plötzlich ruckartig erhob. „Geraldine ist hungrig.“, erklärte er. „Ich werde jetzt in die Küche gehen und ihr ein Lebkuchenherz backen das so süß ist, dass sie meine brennende Liebe auf der Zunge spüren wird.“ Er stapfte in die Küche, den Blumentopf samt Kaktus noch immer in den Händen. Es kostete Qwert einiges an Überredungskunst, ihn wieder zurück ins Wohnzimmer zu manövrieren. Natürlich musste der unnatürlich Verliebte etwas zu sich nehmen, aber in diesem Zustand durfte er auf keinen Fall selbst mit Töpfen und Pfannen herumhantieren, wenn das Gasthaus stehen bleiben sollte. Qwert bereitete eine einfache Mahlzeit zu und brachte sie ins Wohnzimmer. Als er das „Paar“ sah, hätte er beinahe laut losgeprustet: Hildegunst hatte dem Kugelkaktus eine rosarote Schleife aufgesetzt und ein winziges, hellblaues Kleidchen übergestreift. Er selbst trug einen schwarzen Smoking. Diesen hatte er wohl aus seinem Kleiderschrank gerissen, denn nun lagen Dinosaurierkleidungsstücke überall im Raum verteilt. Doch damit nicht genug, Hildegunst von Mythenmetz bestand tatsächlich darauf, dass Qwert Geraldine auf den Stuhl ihm gegenüber postierte und ihr ebenfalls einen kleinen Teller mit einer Portion darauf hinstellte. Qwert tat ergeben wie ihm geheißen und ließ die beiden allein, um sich selbst auf seinem schlecht kreiertem Milchinstrument zu versorgen.

„Qwert!“ Der Gallertprinz unterbrach seine Mahlzeit um nachzusehen, was nun schon wieder passiert war. Hildegunst deutete auf das Häufchen Rührei, das noch immer wie angeordnet auf dem Teller vor Geraldine stand. Dann warf er Qwert einen anschuldigenden Blick zu. „Du hast gesagt, du wirst etwas Köstliches kochen. Aber sie verschmäht deine Mahlzeit. Warum hast du nichts Ordentliches gekocht, wie du es versprochen hast?“ Es folgte eine lange Schimpftirade, die Qwert geduldig über sich ergehen ließ. Immerhin konnte der arme Lindwurm nichts für seine geistige Verwirrtheit.

Diese schritt leider immer weiter voran. Als der Abwasch erledigt war, hatte Hildegunst mit einem Stapel Papier und einer Feder auf dem Bauch gelegen, um Briefe und Gedichte für seine große Liebe zu verfassen. Nach Einbruch der Dunkelheit bekam er plötzlich einen fürchterlichen Heulanfall, weil Geraldine noch immer nicht auf seine liebevolle Behandlungen reagierte. Und nachdem er sich endlich wieder einigermaßen beruhigt hatte, versenkte er sich wieder in seine Liebesgedichte.

Kurzum: Es war anstrengen. Obwohl Qwert es mit aller Kraft zu verhindern suchte, fielen ihm bald die Augen zu.

RUMMS! Sofort war Qwert wieder hellwach und sah sich erschrocken um. Sein Blick fiel zuallererst auf ein Bücherregal, das zuvor dezent an der Wand gestanden hatte, nun aber umgekippt sämtliche Büchern, einen Haufen Papier, einige Porzellanscherben, einen verkleideten Kugelkaktus und Hildegunst von Mythenmetz unter sich begrub. „Hildegunst!“ Sofort machte Qwert sich daran, seinen Gastgeber freizuschaufeln. Dabei suchten seine Gedanken den Grund für das umgefallene Regal. Was zum Teufel hatte Hildegunst angestellt, um das Regal umzuwerfen?

Ein Eimer kühlen Wassers half, sein Bewusstsein wieder herzustellen. Er schnaufte auf, hielt sich den Kopf und sah sich verwirrt um, schien aber unverletzt. Qwert betrachtete ihn eine Weile, bevor er ihn ansprach. „Keine Sorge, deinem Kak-, ääh ich meine Geraldine geht es gut.“ Er hatte vorsichtshalber die Erdklumpen zusammengekehrt, in eine Tasse gefüllt und den Kaktus dort hineingepflanzt. Hildegunst schluckte schwer, bevor er zögernd antwortete. „Der Schlag auf den Kopf muss schwerer gewesen sein, als ich gedacht habe. Wer ist Geraldine?“ Diese Worte nahmen Qwert eine unglaubliche Last von den Schultern und ließen ihn in ein tiefes Loch der Erleichterung sinken. „Erinnerst du dich an gestern?“, fragte er milde lächelnd. Der Lindwurm verzog das Gesicht. „Nur verschwommen.“, gestand er. „Na dann habe ich etwas für dich, um dir dein Gedächtnis ein wenig aufzufrischen.“ Qwert griff wahllos einen der bekritzelten Zettel vom Boden und reichte ihn Hildegunst, der mit gerunzelter Stirn las:

Deine grüne, zarte Haut,

Deine glatten, hellen Spitzen,

Ich liebe dich, du meine Braut,

Ich werde stets hier bei dir sitzen.

Und wirst du müde, trag ich dich,

Durch Regen, Schnee und Sonnenschein,

Weil du die einz’ge bist für mich,

Du weißt es doch: Mein Herz ist dein.

Nun nimm doch endlich meine Hand,

Denn ohne dich will ich nicht leben,

Uns binden wird ein güldnes Band,

wenn wir auf Wolke Sieben schweben.

Qwert kicherte, als Hildegunst sich einen weiteren Zettel krallte und mit bestürzter Mine weiterlas:

Oh Geraldine, früher war ich einsam und allein. Doch seit ich dich traf, ist dies vorbei. Mein Herz ist wie ein Schloss, und nur du bist der Schlüssel, darum lass uns zusammen einen Bund eingehen. Den Bund der Ehe, nein, den Bund des Schlüssels eingehen. Ja, ich flehe dich aus tiefstem Herzen an: Erhöre mich und lass uns einen Schlüsselbund eingehen, der uns für den Rest unseres Lebens binden wird!

Einen Moment lang herrschte vollkommene Stille, in der Hildegunst zwischen den Zetteln, dem Regal und dem Kaktus hin und her sah und Qwert gespannt seine Reaktion abwartete. Dann erfüllte ein tiefes Lachen das Haus und ließ alles um sie herum vibrieren. Hildegunst lachte, wie er lange nicht mehr gelacht hatte. Bald begann Qwert mitzuglucksen und sie kicherten, jauchzten und jappsten noch minutenlang um die Wette.

Nachdem sie sich wieder halbwegs beruhigt hatten, machten die Zwei sich daran, ein wenig aufzuräumen. Dabei und schließlich auch darüber hinaus unterhielten sie sich ausgiebig. Hildegunst bedankte sich mehrmals ausdrücklich für seine Betreuung während seiner geistigen Umnachtung. Die Briefe und Gedichte sammelte er zwar ein, warf sie aber nicht weg. „Die ganze Geschichte erinnert mich an meinen Dichtpaten Danzelot und sein Schrankgedicht..“, erklärte er lächelnd. Nachdem er selbst lange und umfassen erzählt hatte, begann er Qwert auszufragen. Anfangs erzählte Qwert fröhlich von seiner und anderen Dimensionen, durch die er gereist war. Doch je länger er sprach, desto gedrückter wurde ihre Stimmung, denn ihnen beiden wurde schnell klar, dass seine Pläne sie bald wieder auseinander führen würden.

„...und da habe ich dich gefunden und mit aus dem Haus geholt.“, endete Qwert. „Wenn du gestattest, werde ich wieder losziehen, um meinen Lebensteppich holen, der immernoch irgendwo in Zamonien sein müsste. Dann werde ich mich in das nächstbester Dimensionsloch stürzen. Ein längerer Aufenthalt bei dir würde mich nur aufhalten. Ich weiß, dass es viele Dimensionen gibt, in dehnen ich keine Sekunde überleben kann. Und dennoch werde ich es versuchen.“

Hildegunst seufzte. „ist das Dein letztes Wort? Willst Du wirklich weg von hier?“ Qwert antwortete nicht. Er saß noch immer am Fenster und beobachtete die vorbei fliegenden Vögel. All die schönen Tage und Stunden in Zamonien wanderten durch seine Gedanken. Zu seiner Überraschung begann der Saurier zu grinsen. „Falls du aber doch verflucht sein und wieder hier landen solltest, was ich nicht hoffe, schau doch mal in die nächste Bücherei und frage nach mir. Ich denke, du könntest deinen Namen in der einen oder anderen Neuerscheinung finden.“ Qwert lächelte gerührt, drückte den großen Schriftsteller zum Abschied und machte sich auf den Weg.