Wo ist Silenzio?

Es war noch mitten in der Nacht, als ich erwachte. Ich hatte ein unangenehmes Gefühl im Bauch, und ich wusste auch sofort was es war: Hunger.

Auf leisen Pfoten schlich ich also den Gang entlang in Richtung Küche. Irgendetwas vor mit klapperte. Noch halb im Schlaf blinzelte ich müde in die Dunkelheit und gähnte.

Ganz plötzlich, mit der Wucht eines eisigen Frühlingsregenschauers, klatschte etwas Kaltes, Nasses gegen meinen weichen Bauch und beraubte mich jeglicher Schläfrigkeit. Ich hörte noch eine leise gemurmelten Entschuldigung, dann war das Etwas eben so schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war. Ich war so verdutzt, dass ich sogar meinen Hunger vergaß. Die Stimme hatte nach Silenzio geklungen. War sie es tatsächlich gewesen, oder litt ich vor lauter Müdigkeit schon an Halluzinationen? Wahrscheinlich sollte ich jetzt einfach zurück ins Bett gehen und mich ordentlich ausschlafen. Ich schnaubte einmal, drehte mich um und wollte gerade verschwinden, als mir vom Boden aus etwas entgegenfunkelte. Neugierig hob ich es auf und untersuchte es. Zu meiner großen Enttäuschung war es weder essbar, noch von großem Wert. Es war eine Kette mit einem hübschen, tropfenförmigen Anhänger daran. "Silenzio?", rief ich etwas verspätet laut in die Dunkelheit. Es kam keine Antwort, also beschloss ich, ihr die Kette später zurückzugeben. Müde tappste ich zurück in mein Bett. Schlafen konnte ich allerdings nicht mehr, denn bei längerem Nachdenken fiel mir auf, dass ich Silenzio in letzter Zeit kaum gesehen hatte. Hoffentlich konnte ich sie morgen schnell finden.

 

Als es schließlich Morgen wurde, stand ich auf und schleppte mich zuallererst in die Küche. Irgendwo musste ich ja schließlich mit der Tratschwellensuche beginnen und die Küche schien mir der geeignetste Ort, den Tag zu beginnen.

Dort angekommen traf ich auf Rumpel, der auf der frischen Tischdeko herumkaute, Sina, die sich von Lia mit Mangos füttern ließ und Bimmel, der eben gerade Bimmel war.

"Hat irgendjemand von euch Silenzio gesehen?", fragte ich in die Runde, stellte mich neben Sina und sperrte die Schnauze auf. Rumpel spuckte eine zerkaute Blume aus. "Silenzio? Ne." Lia warf mir ein goldgelbes Mangostückchen in den Rachen und nickte. "Es stimmt. Jetzt wo ich so darüber nachdenke... Ich habe sie wirklich länger nicht gesehen." Ich seufzte, bedankte mich für die Auskunft, mopste mir noch schnell eines von den Mangostückchen, erntete ein entrüstetes "Heey!" von Sina und verschwand lieber schnell.

 

Vielleicht sollte ich als nächstes in de RE vorbeisehen.

Auf den ersten Blick sah sie leer aus- kein Wunder eigentlich, um die Zeit. Erst als ich genauer hinsah entdeckte ich Käpie und Skelch, die stumm in nebeneinander hockten, ihren Gedanken nachgingen und offensichtlich versuchten herauszufinden, wer von ihnen länger schweigen konnte. "Hallo zusammen." Mein Gruß ließ die beiden erschrocken aufsehen. "Javanam Quas.", grüßte Skelch. Käpie winkte. Ich kam gleich zur Sache: "Ich suche Silenzio. Habt ihr sie gesehen?" "Hast du in ihrem Stollen nachgesehen?", fragte Skelch. Ich schlug mir die Hand vor die Stirn. Wie konnte ich nur so selten dämlich sein? "Da, ääh... Da sollte ich vielleicht mal nachsehen. Danke."

                       

Auf dem Weg zu Silenzios Stollen stolperte ich über etwas Kleines und landete hart auf der Schnauze. "Autsch!", piepste eine erschrockene Stimme unter mir. Ich rappelte mich auf und sah bestürzt unter mich. Etwas beschämt half ich dem Hempelchen wieder auf die Beine. "Oh entschuldige, Visus! Habe ich dir wehgetan?" Visus lächelte. "Ach, halb so schlimm. Ich bin es gewohnt, umgerannt zu werden." Das machte mein schlechtes Gewissen nicht gerade besser. Ich klopfte vorsichtig den Dreck von ihr ab und fragte auch sie nach Silenzio. "Ich glaube, sie hat letztens erzählt, dass sie Pecks besuchen möchte.", sagte Visus. Ich bedankte mich für den Hinweis, verabschiedete mich und eilte weiter in Richtung Stollen.

 

"Hallo?" Vorsichtig steckte ich den Kopf durch die Tür und linste in den Stollen. "Silenzio, bist du da?" Nein, das war sie nicht. Der Raum war leer und wirkte so verlassen beinahe unheimlich.

Halbherzig sah ich noch in die anderen Räume, doch auch sie waren wie erwartet silenziolos.

Natürlich hätte ich die Kette auch einfach hier liegen lassen können, aber langsam begann mir Silenzios Fehlen Sorgen zu machen. Also beschloss ich, mich an Experten zu wenden.

 

Ich mochte den Geruch der Bücherburg.

"Hallo Quas.", grüßte mich der Burgherr Hans von Käse und hielt mir einen frischen Tomatensalat unter die Nase. "Danke!" Für die nächsten fünf Minuten erlaubte ich mir, mein Anliegen zu vergessen und die duftende Köstlichkeit voll und ganz zu genießen. Als wirklich nichts mehr übrig war, leckte ich mir noch ein letztes Mal die Lippen, lächelte und kam zu meinem eigentlichen Besuchsgrund zurück. "Sind Nigel und Hildy da?" Bevor Hans antworten konnte, kam Nigel wie aufs Stichwort eine Treppe hinuntergelatscht. "Was ist mit mir?", fragte er müde. Ich ahnte, dass er die letzte Nacht wohl kaum geschlafen hatte; seine Augenringe sprachen Bände. "Ich suche Hildy und dich.", erklärte ich schmunzelnd. "Ah." Nigel nickte.

Wenig später saßen er und Hildy, dessen geisterhafte Burggespenstgestalt mich ein wenig ablenkte, mir gegenüber auf einem muffigen Sofa.

"Und jetzt machst du dir Sorgen um sie und möchtest uns um Hilfe bitten.", fasste Hildy zusammen. Ich nickte. Nigel kratze sich am Ohr.

"Warum bist du hierher und nicht zur Detektei gekommen?"

"Sie war abgeschlossen."

"Oh. Stimmt ja."

"Auf jeden Fall werden wir uns umhören.", versicherte mir Hildy und erhob sich.

"Jetzt gleich?", brummelte Nigel müde und nippte an seiner Kaffeetasse.

"Natürlich jetzt. Zeig gefälligst ein bisschen mehr Enthusiasmus!"

"Leider habe ich meinen Enthusiasmus bei unseren sinnlosen Ermittlungen gestern Nacht aufgebraucht."

"Dann trink eben mehr Kaffee. Und jetzt komm. Quas, wir melden uns bei dir, wenn wir etwas herausgefunden haben." Winkend verschwanden sie.

Ich wartete noch ein wenig in der Hoffnung auf einen weiteren Salat, gab aber irgendwann auf und verschwand aus der Bücherburg.

 

Eigentlich hätte ich jetzt die Beine hochlegen und darauf warten können, dass die Detektive mit Neuigkeiten zu mir kamen Aber das ließen leider die blöden Hummeln unter meinem Hintern nicht zu. Außerdem hatte der Tomatensalat meinen Magen in Schwung gebracht. So beschloss ich, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und in der Speisekammer zu suchen.

 

Der Keller kam mir irgendwie noch dunkler vor als die Gänge weiter oben, und das will schon was heißen. Die Tür zur Speisekammer klemmte und ich brauchte einige Kraft, sie zu öffnen. Außer Ölsardinen (von denen ich ein paar mitgehen ließ – bei den Unmengen fiel das ohnehin niemandem auf) fand ich allerdings nichts.

Als ich mampfend die Speisekammer verließ, bemerkte ich ein leises Schnaufen hinter der Tür nebenan. Neugierig kam ich näher, lauschte einige Sekunden und trat schließlich ein. Ich hätte es besser lassen sollen.

In dem Raum standen Samus und Kuli. Beide schaufelten unablässig und zutiefst in ihre Arbeit vertieft Erde in ein großes Loch im Boden. Und für eine Sekunde war ich mir sicher, das starre, bleiche Gesicht von Nano Partikel zwischen den fliegenden Erdklumpen zu erkennen. Vor Schreck und Entsetzen entfuhr mir ein leises Fiepsen. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, aber Schreckser und Finsterbergmade hatten mich bereits bemerkt.

Samus reagierte am schnellsten; er machte einen Schritt zur Seite, sodass sein massiger Stahlkörper das Loch, die Erde und den leblosen Körper von Nano vor meinen Blicken schützte. "Quas.", sagte er grinsend. "Ich, äähm... hallo.", stammelte ich. Kuli lächelte dämonisch. "Hallo Quas. Du hast doch nicht etwa Etwas gesehen, oder?" Ich quietschte panisch. "Nein, nichts! Ich habe rein gar nichts gesehen." Die Blicke der beiden wurden milder. "Dann ist ja gut." Samus hielt mir seinen Kopf hin. "Was machst du überhaupt hier? Das ist kein Ort für kleine Wolpis. Komm, ich bringe dich wieder nach oben." "Ich suche Silenzio.", brummelte ich leise, während ich den breiten Stahlkopf erklomm.

Samus brachte mich in die Dunkelkammer, schärfte mir ein den Schnabel zu halten und verschwand wieder. Ich versuchte ersteinmal, mich zu beruhigen.

Aber heute jagte anscheinend ein Schrecken den nächsten: Als ich mich umdrehte, starrte ich plötzlich in das unverwechselbare Grinsen einer Haifischmade. Beinahe hätte ich vor Schreck laut aufgeschrieen. "Hallo, Quas.", sagte Pecks. Aus dieser Nähe konnte ich jeden einzelnen seiner scharfen Zähne erkennen. "Mir ist zu Ohren gekommen, dass du Silenzio suchst. Stimmt das?" Wäre ich nicht so nervös gewesen, hätte ich mich in diesem Moment vielleicht gefragt, ob Haifischmaden tatsächlich Ohren haben. "Ja, ich ääh... Hast du sie denn gesehen?" Pecks schüttelte den Kopf. "Bedaure, nein. Aber ich lasse von mir hören, falls ich sie irgendwo finde." "D-Danke." Ich schenkte der Haifischmade zum Abschied ein nervöses Lächeln und zwängte mich an ihr vorbei auf den Gang. Hatte Visus nicht gesagt...?

Völlig durch den Wind tauchte ich wieder vor der Bücherburg auf. "Was ist denn mit dir los?", fragte Hans besorgt, als er mich sah. "Keller... Nano... Loch... Erde... Pecks...", quasselte ich aufgeregt. Hans schüttelte den Kopf und setzte mich auf das muffige Sofa. "Jetzt beruhige dich ersteinmal und erzähle dann von vorne bis hinten, was passiert ist, in Ordnung?" Er zauberte eine Schüssel Salat hervor und stellte sie mir hin.

 

"Sie war ziemlich durcheinander. Jetzt ist sie müde, glaube ich.", hörte ich Hans' Stimme wie durch einen Schleier. Ja, ich war unglaublich müde. Nachdem ich den Salat in mich hineingestopft hatte, musste ich mich auf dem Sofa ausgestreckt haben und eingeschlafen sein.

"Quas?" Nigel und Hans hatten sich neben mich gesetzt. Ich gähnte. "Habt ihr etwas herausgefunden?" "Nicht viel. " Nigel zückte einen Notizblock. "Gestern soll Silenzio zusammen mit Nano Partikel zu Pecks gegangen sein, um bei ihm etwas zu essen." "Sie ist was?!" Ich jaulte auf und erzählte dann von meiner Kellerbegegnung und von Pecks in der Dunkelkammer. "Also:", kombinierte Hildy, "Entweder, Silenzio und Nano sind bei Pecks gewesen. Dann lügt Pecks. Oder aber, sie sind nie bei ihm angekommen."

 

Weil ich nicht wusste, was ich nun tun sollte, weil es spät geworden war und weil ich mich nach etwas Trost sehnte, begab ich mich nocheinmal in die Raucherecke, die ich insgeheim Räucherecke zu nennen pflegte weil ich fand, dass "räuchern" wesentlich schöner als "rauchen" klingt.

Dort wurde ich jetzt, da es Abend war, von wesentlich mehr Stimmen begrüßt als beim letzten Mal. Müde kuschelte ich mich zwischen Lumpi und Wolff, die sich über gerade angeregt über irgendein Lied unterhielten, das ich nicht kannte.

Ich war fast eingeschlafen, als plötzlich die Tür aufging und eine Tratschwelle hereingeschwabbelt kam. Zuerst hielt ich es für einen Traum. Dort stand Silenzio in der Tür, so heil und unversehrt wie eh und je. Erst, als mir Lumpi beim Gestikulieren versehentlich eine Backpfeife verpasste, war ich mir sicher, wirklich wach zu sein. Ich stürzte mich auf die Tratschwelle. "Silenzio, verdammt noch mal, wo bist du denn gewesen?", fragte ich vorwurfsvoll. Sie glotzte mich verdutzt an. "Ich war im Urlaub. Wieso fragst du?" "Ich hab dich gesucht.", murmelte ich und drückte ihr die Kette mit dem Tropfenanhänger in einen der Ausläufer. Sie sah verwirrt zwischen mir und der Kette hin und her. "Danke. Ääh... Was soll ich damit?"

"Ich wollte ihn dir wiedergeben. Du hast ihn heute früh verloren, weißt du nicht mehr?"

"Was redest du da? Das ist nicht meine Kette. Und heute früh habe ich ganz normal in meinem Bett gelegen und geschlafen." Sie musterte mich besorgt. "Ist alles in Ordnung mit dir?"

 

Seitdem sind neun Tage vergangen. Inzwischen bin ich mir sicher, dass ich mit einem Geist zusammengeprallt bin. Oder habe ich vielleicht wirklich nur geträumt? Aber woher kam dann die Kette? Ich weiß es nicht. Aber ich brauche es auch nicht herauszufinden. Silenzio ist wieder da und alles ist wieder gut. Naja, fast alles: Bis jetzt ist Nano noch nicht wieder aufgetaucht.